Kolumnen

Werthan spielt Poker und lässt sich beschimpfen

Das finde ich sehr ungerecht. Ich verstehe die Spielregeln, lese Pokerbücher und verfolge die Pokerszene in Europa. Ich bin wie du, kein bisschen anders, nur eben etwas schneller gelangweilt als andere.

Vor einiger Zeit habe ich deshalb begonnen, wenn mich das Spiel zu langweilen beginnt, jede schwache Hand zu spielen und dann und wann auch zu re-raisen,  je nach Grad der Fadheit und Uhrzeit.

Dummerweise treffe ich mit diesen Minus-Händen auch fast immer und gewinne sie mit einem sehr schönem und bravourös getimten suck-out. Wenn ich dann aber meine Siegerkarten offen und etwas weniger gelangweilt über den Tisch rutschen lasse, beginnen die Beschimpfungen in einer Weise, wie ich vorher noch nie beschimpft worden bin.

Gut, ich war in meinem Leben oft ungerecht, selbstsüchtig, demütigend und überheblich und die meisten Menschen haben dies mehr oder weniger schweigend hingenommen. Jetzt am Pokertisch reden sie plötzlich, nein sie schreien mit hochroten Gesichtern und mit zitternden Händen. Das schlimmste aber ist, dass ich mich nicht verteidigen kann. Nicht, dass ich einer guten Konfrontation aus dem Weg gehen will, auch bin ich der verbalen Aggression fähig und Schimpfwörter kenne ich mehr als Phil Hellmuth. Ich kann nicht zum Gegenangriff übergehen, weil meine Gegner absolut recht haben in ihren Unmutsäusserungen. Ich sitze dann dort und lächle. Du bist Zidane und Materazzi sitzt dort, lächelnd und selbstverzeihend.

Und eben, weil ich mich aus moralischen Gründen nicht wehren kann, hab ich eine sozialhygienische Funktion, denn irgendwie wirken meine Gegner nach so einer Hasstirade immer etwas erleichtert und zufrieden und dieser Zustand bleibt dann auch wenn sie das Kasino verlassen und diese Zufriedenheit hält sich noch für viele Stunden, manchmal sogar Tage. Weil  meine Gegner ihren gesamten Frust raus schreien konnten, gibt es weniger Ehedramen, weniger Schlägereien, weniger Streit. Ich bin der Menschensohn und nehme euren Hass auf mich. Wenn ihr frustriert und beladen seid, kommt an meinen Pokertisch, beschimpft mich, schreit mich an und verhöhnt mich. Ich merke es gar nicht mehr, ich bin blind und taub, der blinde Depp und das ist gut für uns alle, denn ohne mich würdet ihr euch nur gegenseitig weh tun.


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