Kolumnen

Zugfahren

Jeder Großraumwagen und auch die Abteile sind bis auf den letzten Platz gefüllt und beim Einsteigen muss ich schon verbal anschieben und mir mit einem netten, aber bestimmten „Könnten Sie bitte noch ein Stückchen durchgehen“ einen Teppichsitzplatz im Eingangsbereich ergattern. Direkt unter dieser Deutschlandkarte mit dem modernsten Streckennetz der Welt.

Sehr informativ, das erste Stück der Fahrt. Ich erfahre zum Beispiel, dass die erste Teilstrecke der Schnellfahrt ab Hannover  schon 1979 in Betrieb genommen wurde und auch der längste Bahntunnel – über 10 Kilometer lang – Deutschlands passiert wird.

Nach der ersten Station lockert sich die Platzsituation und ich kann mir in einem Viererbereich mit zwei Kleinkindern netterweise eine Zweiersitzreihe teilen.

Bei der zweiten Station wird mir das aber auch zu viel. Ich entscheide mich dazu, Gerhard Polts Ratschlag „bahnfahren bahnfahren“ sein zu lassen und dieses nur mit einem Bier und aus dem Fenster sehend zu erleben

Ich setze mich in den Speisewagen an einen Viererplatz und bestelle ein Bier. Aber statt aus dem Fenster, sehe ich in meine Tasche und hole meinen Laptop heraus. Mit dieser UMTS USB Steckkarte komme ich locker ins Internet und kann mich auch auf einer Pokerseite einloggen.

Mir gegenüber sitzen zwei Kölner Originale/innen, die sich auf diese Strecke verirrt haben müssen. Sehen so aus, als hätten sie nach Hannover gemusst, um diese spezielle toupierte Frisur zu finden, die sonst nirgends so gut gekämmt wird.

Nürnberger Rostbratwürstel auf deren Speisekarte könnte ich gerade auch vertragen, aber es ergibt sich die erste große Hand. Ist es eigentlich unfreundlich den Laptop einfach so auf den Tisch zu klatschen? Egal

Bei Blinds von 25/50 ist ein Openlimp bei einem Stack von 35.000 mit AA gut, denn hinter mir wird geraised, reraise all in, call und ich brauch nur zu callen und die beiden kleineren Stacks werden erst einmal einverleibt. Was überspielen die beiden denn ihre Könige so drastisch? Für 10.000 stelle ich aber keine Fragen.

Bei dem Kellner, der wiederum nicht so modern ist und noch eine Frisur aus Mitropazeiten auf hat, bestelle ich das nächste Weißbier und dazu die Nürnberger.

Die Partie hat jetzt ein wenig Fahrt aufgenommen, im Gegensatz zu dem Zug, der  sich dem vorausfahrenden Verkehr anpassen muss, wie der Schaffner erklärt. Muss eine Draisine auf dem Weg zum Obstmarkt sein.

Nach der Hand mit den Assen haben die Gegner richtig Druck und inzwischen spielen wir mit Blinds von 200/400.

Mein Image ist etwas spewy, ähnlich dem Image der Deutschen Bahn. Gut so, dann wenn ich wirklich mal wieder eine Hand haben sollte, werde ich hoffentlich auch ausbezahlt.

Weit geht die Fahrt nicht mehr, aber ein letztes Bierchen geht schon noch. Und während ich dieses hingerutscht bekomme, sehe ich wieder AA.

Heiliges Blechle, das gibt Auszahlung. Raise auf 1500. Reraise auf 5000 und ein Spieler geht mit 16.000 All in. Träume ich? Kann sein, denn auf einmal wird es Dunkel und der Button „connecticity Problem“ blinkt auf.

Mein Bier, hoppla, Blut gefriert mir in den Adern alles wird klar. Ich fange fieberhaft an zu rechnen. 10km bei einer Geschwindigkeit bei nicht über 60km/h ergibt mindestens 10 Minuten. Der Disconnect Protect gibt mir drei Minuten, um wieder Online zu sein und die Hand fertig zu spielen. Mir wird schwarz vor den Augen und beim Aussteigen zittern mir noch ein wenig die Knie und ich falle irgendjemandem einfach in die Arme. Meine Freundin rückt alles wieder in die richtige Perspektive:

„Zum Glück spielst du in Zügen nur auf dem Spielgeldaccount.“


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