Kolumnen

Der Read im Café

Liebe Pokis, da sitze ich mal wieder vor meinem Laptop und frage mich, wovon ich Euch diesmal erzählen könnte. Das Problem an der ganzen Situation ist ja, dass nicht jeder zum Schreiberling geboren wurde. Ich ganz bestimmt nicht, aber dennoch möchte ich etwas aus dem Leben eines Pokerspielers erzählen.

In Gesprächen mit Freunden und Bekannten kommen immer wieder tolle Vorschläge: „Schreib doch über das letzte Turnier!“ Finde ich langweilig, schließlich ähneln sich die Hände, die man spielt. Ebenso die Hände, die man nicht spielt. Manchmal gibt es einen am Tisch, der eine bessere Hand hat und manchmal gibt es jemanden am Tisch, der denkt, er hätte eine bessere Hand. Und am Ende kann man überall nachlesen, wie viele Spieler eine bessere Hand hatten und wie viele eben nicht. „Aber das Drumherum ist doch interessant“, sagte neulich ein guter Bekannter. „Wie Du am Flughafen ankommst, wie so ein Turnier aufgebaut ist. Wie man sich fühlt, wenn man acht Stunden am Stück konzentriert sein muss.“ Das mag ja sein, aber mir fällt das nicht mehr auf. Für mich ist dieses Leben zur Normalität geworden.

Heute Bahamas, morgen Venedig, danach in Wien und dann wieder Berlin. Für mich sieht das alles gleich aus und ist nicht erzählenswert. Ich sehe die Storys in meinem Leben einfach nicht. Aber das liegt an den Relationen. Während für einen Bäcker das Pokerspielen aufregend ist, finde ich es eher interessant, wie es ist als Bäcker zu arbeiten. Wie ist es, nachts aufstehen zu müssen, um die Brötchen und Brote um sieben Uhr fertig zu haben. Schlussendlich bleibt nach all den Gesprächen weiterhin die Frage: Über was soll ich schreiben? Was will ich erzählen? Was kann ich erzählen?

Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Kolumnen werden nicht von den Kolumnisten geschrieben, sondern vom Leben. Die Kolumnisten halten sie nur in Worten fest. Also erzähle ich einfach davon, was mir genau in diesem Moment gerade durch den Kopf geht. Ich sitze in meinem Lieblingscafé in Hamburg. Es ist 16 Uhr, ich habe den Laptop vor mir und einen Latte macchiato in der Hand. So, was geht mir durch den Kopf? Mein Blick schweift durch den Raum. Am hinteren Ende sitzt ein junges Pärchen. Sie erzählt ihm etwas, gestikuliert, erhebt die Stimme und flüstert gleich danach eindringlich. Er sitzt ihr eher unbeteiligt gegenüber. In meinem Kopf schwirren die Gedanken. Was geht da vor? Was hat sie für ein Problem? Sind sie überhaupt ein Pärchen? Ich wage es, eine These aufzustellen.

Er ist fremdgegangen und sie hat es herausgefunden. Nun haben sie ein klärendes Gespräch. Auf neutralem Boden, damit es glimpflicher für ihn ausgeht. Man schreit ja nicht gerne in der Öffentlichkeit. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und gebe eine Diagnose ab, was in den beiden vor sich geht: Er hat mit dem Thema Beziehung schon abgeschlossen. Es ist ihm gleichgültig, ob es weitergeht. Eigentlich wäre es ihm ganz lieb, wenn sie jetzt endlich Schluss machen würde, damit er zu der anderen gehen kann. Sie möchte erst mal ihrem Ärger und ihrer Enttäuschung Ausdruck verleihen. Oberflächlich möchte sie die Beziehung retten. Aber innerlich ist sie so sehr enttäuscht, dass sie eigentlich weiß, dass sich das Thema Vertrauen erledigt hat. Sie möchte ihm einfach nur noch mal sagen, was sie von seinem Verhalten hält. Natürlich sind Thesen leicht aufgestellt. Ob ich aber wirklich richtig liege kann ich nur beweisen, wenn ich der Sache auf den Grund gehe. Jetzt fühle ich mich ein wenig wie ein Detektiv. Und das nur, um Euch eine Story zu liefern. Der Tisch, an dem die beiden sitzen, liegt glücklicherweise direkt auf dem Weg zur Toilette und daneben steht ein Kartenständer mit diesen lustigen Werbepostkarten. Also perfekt, um mich anzuschleichen, zu lauschen und zu recherchieren. Bis gleich.

Fünf Minuten später…

Ja, liebe Pokis, wer hätte das gedacht. Ich lag vollkommen daneben. Das junge Pärchen entpuppte sich dann doch als Bruder und Schwester. Und das angeregte Gespräch wurde auch nicht über seine sexuellen Eskapaden geführt, sondern über seine Trinkgewohnheiten bei Partys. Ich konnte etwas hören von wegen „es ist so peinlich, wenn Du jedes Mal voll mit meinen Freundinnen“ und „benimm Dich endlich wie ein großer Bruder“ und „es ist ganz allein meine Sache mit wem ich rummache.“ So viel zu meiner Menschenkenntnis und ich erkenne gerade die Parallelen zum Pokern. Dort versucht man ja auch regelmäßig einen Read auf die Mitspieler zu bekommen. Und den anderen die Möglichkeit auf einen Read an der eigenen Person zunichte zu machen. Einige Spieler tragen einen Schal – auch bei 40 Grad im Schatten – weil man die Halsschlagader pochen sehen kann, sobald sie zwei Asse haben. Oder sie fangen unkontrolliert an, zu schlucken, wenn sie bluffen. Andere tragen Sonnenbrillen, weil sie immer dreimal zwinkern, wenn sie ein gutes Blatt haben. Oder sie tragen die Brillen, um die anderen zu beobachten. Manche bekommen Schweiß auf der Stirn, wenn es eng wird, andere zittern mit dem kleinen Finger. Um Euch jetzt mal zu zeigen, dass man auch im wahren Leben einen Read auf jemanden bekommen kann, nehme ich mir den nächsten Gast vor.

Am Tresen sitzt ein junger Mann mit Ohrringen und einem volltätowierten Arm. Zerschlissene Jeans, Armeejacke, muskulöser Typ, keine Haare. Er spricht mit der Bedienung. Bei jedem Satz, den er ihr zuraunt, lehnt er sich mehr über den Tresen. Und sie poliert Gläser und weicht nur ungern von seiner Seite. Die Situation ist klar: Er baggert, sie geht drauf ein. Weiter im Text: Er ist wahrscheinlich Türsteher oder Fitnesstrainer, das schließe ich aus seiner Kleidung und seinen körperlichen Proportionen. Jetzt holt er seine Visitenkarte aus der Tasche und legt sie auf die Theke. Moment, liebe Pokis, ich gehe der Sache mal kurz auf den Grund und ordere am Tresen noch einen Latte.

Zwei Minuten später …

50 Prozent sind auch ein Erfolg. Die beiden bändeln tatsächlich gerade an. Ich konnte noch mitbekommen, wie sie sich für ihren Feierabend um 18 Uhr verabredeten. Nur bei der Einschätzung seiner Person lag ich vollkommen daneben. Die Visitenkarte verriet mir, dass er Filialleiter bei einem Reifenspezialisten ist. Ganz seriös, ein Bürojob, wer hätte das gedacht.

Fazit: Lasst Euch niemals vom äußeren Schein täuschen. Denn am Tisch ist es nicht wichtig, wie Euer Gegenüber aussieht, sondern wie er sich verhält. In diesem Sinne: Kommt der Wind mal hart von vorn, dann macht es wie der Pokerstorm.

Euer Dragan.

 

Dieser Artikel erschien im Royal Flush Magazin Ausgabe 04/2011!
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