Kolumnen

Der Zufall und das deterministische Paradigma

Beim Pokern spielen Zufall und Wahrscheinlichkeit eine große Rolle. Das klassische deterministische Weltbild der Naturwissenschaften ist am Pokertisch nicht anwendbar. Ereignisse, die zufällig oder trotz geringer Wahrscheinlichkeit auftreten, sind Teil der Faszination, die dieses Spiels ausübt.

Der Zufall ist ein Hund. Jeder Pokerspieler hat mit ihm Bekanntschaft gemacht, Anfänger ebenso wie Profis. Manchmal ist er brutal und erbarmungslos, manchmal tritt er als Retter in letzter Sekunde auf. Man kann ihn verfluchen, um sich gleich darauf wieder in ihn zu verlieben. T. J. Cloutier zum Beispiel – ein alter Pokerhaudegen – weiß ein Lied davon zu singen. Am Final Table des Main Events der WSOP 2000 ging es um das heißbegehrte Armband. Sein einziger noch verbliebener Gegner am Tisch war Chris Ferguson. Beide gingen pre flop all-in und ausgerechnet dem als ultra-tight bekannten Ferguson gelang mit A-9 der große Coup! Cloutier hielt mit A-Q die deutlich bessere Hand, doch der Dealer deckte am River unbarmherzig eine 9 auf. Ferguson gewinnt mit einem Drei-Outer, Cloutier verliert und ist bitter enttäuscht. Ferguson hatte Glück, Cloutier Pech.

Solche Begebenheiten haben einen schlechten Beigeschmack, da sie ungerecht zu sein scheinen. In Wirklichkeit machen sie aber das Pokerspiel so faszinierend. Poker zu spielen bedeutet ja vor allem, sich mit Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheiten auseinanderzusetzen. Dass dies nicht so einfach ist, hat eine lange Tradition. Ein Blick in die europäische Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass seit dem Zeitalter der Aufklärung und dem Aufstieg der Naturwissenschaften unser Denken stark deterministisch geprägt ist. Diesem Paradigma zufolge sind Ereignisse – sei es nun im Alltag oder in der Wissenschaft – durch eindeutige Ursache-Wirkung-Beziehungen miteinander verknüpft. Kennt man diese Beziehungen, so kann man vom Auftreten eines bestimmten Ereignisses (Ursache) zweifelsfrei auf das Auftreten eines anderen Ereignisses (Wirkung) schließen. Mit Hilfe dieser deterministischen Sicht gelingt es, die Komplexität der Welt zu reduzieren und zukünftige Ereignisse eindeutig zu prognostizieren. Diese heile Welt des Determinismus hat natürlich schon längst Risse bekommen. Darum zählen auch Wahrscheinlichkeitstheorie und Stochastik längst zur Fixausstattung vieler empirischer Wissenschaften. Dennoch sind Einfluss und Anziehungskraft des deterministischen Paradigmas ungebrochen. Nach wie vor wird der Wert wissenschaftlicher Prognosen an deren Trefferquote bemessen.

Warum der Umgang mit dem Zufall (und mit Ereignissen, deren Auftreten unsicher ist) für den Menschen problematisch ist, mag mehrere Gründe haben. Der erste besteht darin, dass unsere kognitiven Fähigkeiten zum Einschätzen von Wahrscheinlichkeiten beschränkt und mit systematischen Fehlern behaftet sind. Umfangreiche kognitionspsychologische Untersuchungen haben seit den Arbeiten von Kahneman und Tversky eindrucksvoll auf diese Defizite hingewiesen.

Der zweite und vielleicht wichtigere Grund mag das subjektive Gefühl der Unsicherheit und Unbestimmtheit sein, das mit dem Zufall einhergeht. In einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft, in der ökonomischer Erfolg hoch bewertet wird, ist die Berechenbarkeit und Prognostizierbarkeit von Ereignissen von immenser Bedeutung. Zufälle werden in einer so stark rationalisierten und bis ins letzte Detail durchorganisierten Lebenswelt als störend empfunden und sollen so weit als möglich ausgeschaltet werden. Beim Pokern sind diese Unsicherheiten von vornherein einkalkuliert, sie sind integraler Teil des Spiels. Auch mit einer 90-Prozent-Gewinnchance am Turn ist die Hand noch nicht gewonnen. Jeder Pokerspieler setzt sich dieser Unsicherheit bewusst und mit voller Absicht aus. Schließlich macht diese Unbestimmtheit einen Teil des Kicks aus. Ob Cloutier am Final Table in Las Vegas diesen Kick auch verspürt hat, darf jedoch bezweifelt werden. Bei Ferguson kann man da wohl nicht so sicher sein..

Alfred Barth studierte Philosophie, Geschichte und Psychologie. Er ist Universitätsprofessor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik (UMIT) in Tirol/Österreich.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
8 Comments
Inline Feedbacks
View all comments