Kolumnen

Die Wahrheit – Same same

Unter vielen anderen dümmlichen Sprüchen, die von gelangweilten Mitschülern mannigfaltig in die hölzernen Schultische meines Gymnasiums eingraviert wurden, fand sich auch folgender:
„Hier verkümmerte ein Genie!“

Damals fand ich das nicht nur lustig, sondern auch zutreffend. Denn trotz permanenter Leistungen um die 3,0 wurde mein Genius weder gefördert, ihm gehuldigt oder er zumindest erkannt. Erst heute, gut 30 Jahre später, sind mir zwei Dinge klar geworden.

Ein wahres Genie kann nicht verkümmern, da es immer eine intellektuelle Herausforderung findet. Die Schule ist tatsächlich eine Vorbereitung auf das Erwachsenen Dasein. Wer gut aufpasst, Sachverhalte relativieren und miteinander in Bezug setzen lernt, der kann später die eine oder andere Fallgrube vermeiden.

Wenn mich heute jemand fragt, welches wohl die wichtigsten Fächer sind, würde meine Antwort lauten: Mathematik und Geschichte.
Die Mathematik erklärt die Logik hinter den Dingen und quantifiziert sie – und die Geschichte, ja die Geschichte wiederholt sich. Wer also Entwicklungen genau betrachtet, kann, wenn er die Vergangenheit überträgt, die Zukunft vorhersagen. Natürlich nicht absolut, aber mit größerer Wahrscheinlichkeit als ein unbedarfter Betrachter.

In diesem Licht möchte ich die Entwicklung des Backgammon betrachten und anschließend einige Überlegungen zu der Entwicklung des Pokerns wagen.

Ich erlernte das Backgammon spielen von einem Freund im Jahre 1981. Er bestand darauf, um Geld zu spielen, aber hatte mir das abgeknöpfte Lehrgeld bald zurückgegeben und schuldet mir bis heute DM 60. Danke, dass Du mir den Weg gezeigt hast und: Te absolvo de peccatis tuis Dominik.

Damals gab es in München eine lebhafte Backgammonszene, in der sich Gegner in jeder Spielhöhe finden ließen. Da die meisten Spieler ihre Spielstärke überschätzten, war es einfach, lukrative Partien für immer größere Einsätze zu finden. Der Aufbau einer Bankroll war dementsprechend ein Kinderspiel. Mit wachsender Zuversicht wagte ich mich über die Stadtgrenzen hinaus. Begünstigt von einem kleinen Boom entstanden sowohl eine deutsche, als auch eine europäische Backgammontour. Auch dort konnte ich mich bald durchsetzen. Meine persönliche Glanzzeit begann mit dem Gewinn der WM 1988 und dauerte die nachfolgenden 4 Jahre an, wobei ich 1990 und 1991 Nr.1 der Weltrangliste war.

Das war in etwa auch der Zeitpunkt einer einsetzenden Technisierung. Zunehmende Rechenleistung der Computer und Fortschritte in der Programmierung (u.a. die Entwicklung von neuronalen Netzen) führten bald zur Entstehung eines dem Menschen überlegenen Backgammonprogramms. Durch die eingebauten Lernfunktionen verkürzte sich der Zeitraum, der zum Erlernen des Spiels notwendig war, von grob geschätzten drei  Jahren auf ca. sechs Monate. Dies führte zum Entstehen einer wesentlich größeren Anzahl von Spitzenspielern. Ich musste mich immer öfter mit starken Gegnern messen, die Anzahl der Hechte im Karpfenteich wuchs stetig. Ab 1994 begann ich auf Poker umzustellen, da es im Backgammon einfach zu mühsam wurde, gute Gewinne einzufahren. Später entstanden Online-Sites auf denen Backgammon gespielt werden kann. Durch einen relativ hohen Rake und den ständig lauernden Verdacht, der Gegner könnte sich eines Programms bedienen, währte deren Blütezeit nur kurz. Heute ist die Szene ziemlich „verarmt“.

Merken Sie schon was ?

Als ich mit Poker anfing, war die Weltelite eine kleine Gruppe. Nur die ehrgeizigsten und talentiertesten waren in der Lage, sich mit Hilfe der spärlich vorhandenen Literatur und viel Rechen- und Gedankenarbeit in die Spitze vorzuarbeiten. Von 1998-2002 habe ich, bis auf wenige Ausnahmen, mit allen Spitzenspielern schon mal im Turnier oder Cashgame an einem Tisch gesessen. Auch hier konnte ich mich nur auf dieses Niveau hinaufarbeiten, weil sich viele Pokerspieler überschätzten und höhere Limits spielten als ihrem Können angemessen war.

Der 2003 einsetzende Poker-Internetboom hat einiges verändert. Pokerliteratur ist jetzt leicht erhältlich. Durch die hohe Spielgeschwindigkeit und mögliches Multitabling kann man in gleicher Zeit wesentlich mehr Hände als live spielen. Anreise und Wartezeiten entfallen gleichfalls. Jede Site bietet eine Pokerschule an, deren Inhalte mittlerweile sehr instruktiv sind. So kann man heutzutage binnen drei Monaten intensiven Onlinepokerns auf ein beachtliches Niveau kommen. Der entstehende Effekt ist eine Verbreiterung der Spitze.

Da Onlinepokerseiten aber durch einen hohen Marketingaufwand ständig neue Spieler dazugewinnen, kippt das Gleichgewicht zwischen Gewinnern und Verlierern nur langsam um. Beschleunigend wirkt allerdings der Umstand, dass einem potentiellen Nullsummenspiel durch die Betreiber Milliardenbeträge entzogen werden.

Der Effekt ist bereits zu spüren. Bei Gesprächen mit hochkarätigen Pros, die früher in den höchsten Cashgames der Welt gespielt haben, entdecke ich oft Missmut und Resignation. Sie können online und teilweise auch live die höheren Limits schon nicht mehr schlagen. Das fällt Neulingen in der Pokerszene gar nicht so auf, insbesondere da ja auf Großturnieren immer neue Millionäre geschaffen werden.

Wie Backgammon wird auch Poker bestehen bleiben. Sicher auch mit einer weltweit viel größeren Anzahl an Spielern, da es einfacher zu lernen und auf allen Ebenen spannend ist. Wichtig ist nur, dass Sie eine realistische Zielsetzung haben. Denn die Bandbreite der Möglichkeiten erscheint endlos. Wollen Sie die Weltherrschaft oder zumindest so groß wie Pokerstars werden? Oder reicht es Ihnen, der Parasit an der Milbe auf dem Stein in dem Erdklumpen im Profil des Turnschuhs von Phil Ivey zu sein? Oder vielleicht doch nur in dem von Marcel Luske?

Falls Sie aber dabei sind, eine Profikarriere zu starten, sehen Sie sich vor. Denn eines kann ich Ihnen garantieren:

Gewinnen wird schwieriger werden!

Phillip Marmorstein


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