Kolumnen

Es gibt Wichtigeres…

Liebe Pokerfreunde,
manchmal zeigt einem das Leben, dass es wichtigere Dinge gibt als ein Pokerspiel. Doch fangen wir ganz vorne an. Ich war mal wieder in meiner Heimat unterwegs. Das Auto bepackt mit meiner Freundin, ihrer Mutter und den zwei Yorkshire-Terriern, die laut hechelnd in einer von Schmiegermuttis Handtaschen Platz genommen hatten und langsam aber sicher meine Rückbank vollsabberten. Nicht, dass ich nicht gerne mit meiner Familie die Zeit verbringen würde, bloß hatte ich unter einem gemütlichen Ausflug an diesem Tag etwas anderes vorgestellt, als Shoppen in der Mittagssonne.

Nach der Einkaufstour saßen wir also mit vollgepacktem Kofferraum im Wagen und fuhren auf der Autobahn, dreispurig, freie Fahrt. In der Nachmittagshitze haben die Kroaten eben besseres zu tun, als sich auf der Autobahn zu amüsieren. Und ich dachte ein wenig neidisch an meine Freunde, die sich gerade wohl an irgendeinem Strand oder in irgendeinem Pool amüsierten. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie die Jungs im Wasser saßen, ein Glas Prosecco, J.B.-Cola oder ein kühles Bier in der Hand, sich über Autos, außergewöhnliche Pokerpartien oder über die eine oder andere Bekannte redeten. Der Gedanke, jetzt selber im kühlen Nass zu sitzen, zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen. Als mich meine Freundin fragte, an was ich gerade denke, erwiderte ich nur kurz „Ach nichts“, Ihr kennt das sicherlich.

Die Fahrt lief bis dato eher unspektakulär, ich sagte ja schon, dass sich keiner auf der Autobahn aufhielt und so fuhren wir schweigend und dösend Richtung Heimat. Wobei ich mich aufs Schweigen konzentrierte, während die Damen dösten. Zirka 70 Kilometer vor Zagreb schloss ich allmählich auf einen Fiat `Kombi` auf und dachte bei mir „Schau mal an, noch ein Idiot, der nicht im Schatten oder am Strand sitzt“. Er fuhr in aller Seelenruhe auf dem mittleren Fahrstreifen und schien die Fahrt bei 140 Sachen zu genießen. Normalerweise regen mich solche Mittelspurfahrer auf, aber hier war weit und breit kein anderes Auto zu sehen, also gönnte ich ihm seinen Spaß. Ich ließ die Lichthupe aus dem Spiel, machte mich auch nicht bereit, wild gestikulierend an ihm vorbeizufahren, um ihn zum Spurwechsel zu animieren. Ich ließ ihn einfach da fahren, wo er wollte.

In gebührendem Abstand fing ich an zu blinken, wechselte die Fahrbahn und setzte zum Überholen an. Eigentlich hätte ich mir das Blinken sparen können, war ja schließlich außer mir und ihm keiner auf der Straße, aber das sind wohl die Mechanismen, die man einfach nicht abschütteln kann. Klassische Konditionierung. Wie der Hund der automatisch anfängt mit dem Schwanz zu wedeln, wenn Herrchen in die Hosentasche greift. Denn in 80 Prozent aller Fälle holt der Zweibeiner ein Leckerchen für den vierbeinigen Freund aus dieser Tasche. Und wenn es dann nur der Autoschlüssel ist, dann wird das Schwanzwedeln eingestellt. Ich schweife ab.

Ich setzte also zum Überholen an und wollte mit gut 160 km/h meinen Vordermann leger und zügig überholen. Als ich mit meinem X5 auf gleicher Höhe war, schaute ich in die Fahrgastzelle des Fiats. Der Kofferraum war voll mit Strandsachen: Luftmatratze, Planschtier, Schaufeln und Eimer, Decken, eine Kühlbox, Flossen, Schnorchel, Sandförmchen. „Ein schönes Wochenende mit der Familie am Meer“, dachte ich mir und war schon wieder ein wenig neidisch – diesmal nicht auf meine Freunde, sondern auf den jungen Mann in diesem Fiat –, da ich ja eine ungeschmeidige Shoppingtour zweier Frauen begleiten durfte, die sich übrigens als wahre Schlendermeister herausstellten. Gefühlte 38 Boutiquen in 6 Stunden dürften mit Sicherheit ein neuer Rekord sein. Zum Glück haben sie nicht in jedem Laden etwas gekauft.

Auf der Rückbank des Fiats döste eine Frau Mitte 30, im Kindersitz daneben schlummerte ein Zwerg von maximal 12 Monaten. Fix und fertig, die Seeluft macht eben müde. Kofferraum, Rückbank – Ich hatte genug gesehen, also trat ich aufs Gas und wollte nur noch kurz dem Fahrer zuzwinkern, um ihm zu zeigen: „Hey, Du bist nicht der Einzige, der bei 45 Grad im Schatten auf der Autobahn rumkriecht. Ich bin in Gedanken bei Dir.“
Als ich gerade beschleunigte und durch das Fenster der Fahrertür schaute, erschrak ich. Am Steuer saß ein Mann, ebenfalls Mitte 30. Und seine Augen waren geschlossen. Ehe ich mir Gedanken darüber machen konnte, was ich tun sollte, kam der Fiat immer näher an mich heran. Ab jetzt verlief alles Weitere wie in Zeitlupe.

Ich versuchte zu beschleunigen, um der Kollision auszuweichen und betätigte zeitgleich die Hupe, doch es war zu spät. Sekundenbruchteile später tuschierte mich der fremde Wagen. Mit einem metallischen Kreischen krachte er in die Beifahrerseite meines X5. Ich versuchte verzweifelt, die Spur zu halten und nicht in die Leitplanke zu geraten. Der Fahrer schien dadurch aus seinem Sekundenschlaf hochzuschrecken, denn mit einem Ruck verriss er sein Steuer und schleuderte quer über die Autobahn. In wilden kreisenden Bewegungen schlug er in die rechte Leitplanke ein, nur um kurz darauf in die andere Richtung zu schleudern. Hinter mir schrien die Frauen, die Hunde kläfften und ich versuchte noch immer, die Situation richtig einzuschätzen, um einen weiteren Crash zu vermeiden. Doch es war alles vergebens. Ich bremste erst, beschleunigte dann wieder, aber der schleudernde Fiat schien es auf mich abgesehen zu haben. Mit voller Wucht erwischte mich das Unfallfahrzeug ein zweites Mal, drückte mich in die Leitplanke und prallte erneut ab.
Dann war es still.

Ich öffnete meine Augen und suchte meinen Körper nach Verletzungen ab. Alles tat ein wenig weh, aber es war nichts Dramatisches. Dann sah ich mich um. Mein Auto war an der Leitplanke zum Stehen gekommen. Die äußeren Schäden waren auch im Innenraum zu sehen. Die Beifahrertür wies einen Spalt auf, durch den ich locker hätte aussteigen können. Meine Tür stieß schon gegen meinen Oberschenkel. Die Nebel, durch die ich meine Umwelt in diesem Augenblick wahrnahm, lichteten sich allmählich. Die Hunde kläfften immer noch. Mir fiel auf, dass die Mutter meiner Freundin aschfahl im Gesicht war und keinen Mucks sagte. Aber ich sah, dass sie unversehrt war.

Nachdem ich mich versicherte hatte, dass es auch den anderen Insassen gesundheitlich gut ging, stieg ich über meine Freundin, da meine Tür von der Leitplanke blockiert war, und drückte die Beifahrertür auf, die nur sehr widerwillig und mit lautem Kratzen nachgab.

Draußen angekommen sah ich das gesamte Ausmaß des Unfalls. Überall lagen Glasscherben, Plastikteile, sogar ein abgerissener Kotflügel lag auf der Straße. Die Bremsspuren waren klar zu sehen und schienen 200 Meter weit zu reichen. Und auch um die Autos war es nicht gut bestellt. Mein X5 sah aus wie eine zerdrückte Coladose, doch gegen den Fiat mutete er noch wie ein Neuwagen an. Dieser stand in einiger Entfernung in der Mitte der Fahrbahn, kein Lebenszeichen aus dem Innern. Ich drückte meiner Freundin das Handy in die Hand, sagte ihr, sie solle die Polizei verständigen und lief zum anderen Wagen. Als ich ankam sah ich zuerst das Baby, das herzzerreißend schrie, dann sah ich auch die Eltern. Der Vater hatte gerade den Gurt abgelegt und versuchte durch das zerborstene Fenster aus dem zerbeulten Wrack zu klettern. Die Mutter schlug die Augen auf und beruhigte das Kind. Nach fünf Minuten waren alle in Sicherheit und saßen, als Polizei und Rettungskräfte ankamen, am Straßenrand.

Fazit dieses Ausfluges: Ich weiß jetzt, dass ein Vater auch mit zwei gebrochenen Rippen und gebrochenem Bein in der Lage ist, seine Familie zu retten. Ich weiß jetzt, dass in solch einer Situation nicht das gesamte Leben an einem vorbei zieht. Und ich weiß, dass es nichts Schlimmes an einem verlorenen Turnier gibt, denn am Ende sind wir noch am Leben.

Der jungen Familie ist übrigens außer den schwereren Verletzungen des Vaters nichts passiert. Die Frau hatte ein paar Schürfwunden und Kratzer durch die Scherben, dem Kind ist wie durch ein Wunder gar nichts passiert.

Meine Freundin sagte, dass Gott seine Engel ausgeschickt habe, um alle zu beschützen. Und Engel scheren sich einen Dreck um Pokerblätter.
Nach einem solchen Unfall sieht man die Welt in einem anderen Licht, genießt den Sonnenschein des Tages etwas mehr, erfreut sich an dem Duft der Blumen und nimmt die Momente mit der Familie viel bewusster wahr. Ich weiß, dass sich dieses Gefühl schnell verflüchtigt. Schnell ist man wieder im Trott, jagt der Devise hinterher „Höher, schneller, weiter“, ist nicht mit dem zufrieden, was man hat, sondern will stets das haben, was man eben nicht hat. Aber vielleicht gelingt es mir, diesen Augenblick hinauszuzögern, wenn ich es aufschreibe. Vielleicht.

Und nun noch eine kroatische Seemannsweisheit des Tages: Kommt der Wind mal stark von vorn, dann mach es wie der Pokerstorm.

Euer Dragan

 

Dieser Artikel erschien im Royal Flush Magazin Ausgabe 06/2011!
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