Kolumnen

Hat Löw sich verpokert?

Diese Frage stellt sport1.de seinen Lesern ca. 24h nach unserem EURO 2012 Ausscheiden gegen Italien. Ich wollte wissen, wie sich die aktuelle Stimmung dazu darstellt und habe ohne groß darüber nachzudenken „Ja“ geklickt. Damit gehörte ich einer ca. 80%-igen Mehrheit bei fast 37.000 abgegebenen Stimmen an – und bin nicht stolz darauf.

In Sachen Fußball bin ich – wie so viele andere auch – einfach „ambitionierter Laie“. Gerade als solcher wunderte ich mich tatsächlich über so manche Entscheidung, die unser Bundes-Jogi im Rahmen des Italienspiels getroffen hat.

In Sachen Poker – und hierbei gerade was das Entscheiden unter Unsicherheit anbelangt – kenne ich mich aus und deshalb schäme ich mich nun nachträglich dafür bei der Umfrage „Ja“ geklickt zu haben. Denn ich war hier leider nicht besser als die, die ich schon immer für ihre rein ergebnisorientierte Beurteilung von Pokerentscheidungen kritisiere.

„Wer gewinnt hat Recht“ sagt es sich leicht und gerne. Draußen im Wettkampf belasse ich es auch immer dabei. Aber für mich weiss ich, dass jeder Sieg neben Können auch etwas Glück beinhaltet, genauso wie sich bei jeder Niederlage zu irgendeiner Art von Fehleinschätzung auch immer etwas Pech mischt. Es ist Aufgabe eines jeden guten Spielers im Up wie im Down, die Dinge, welche man verantwortet von denen zu trennen, die sich der eigenen Beeinflussbarkeit entziehen. Man soll stolz auf Können und demütig gegenüber Glück sein.

Löw hat in Sachen vorläufigem Kader, endgültigem Kader, Spielaufstellungen in den drei Vorrundenspielen sowie beim Viertelfinalspiel gegen Griechenland samt seiner vielen Spielerwechsel toujours Entscheidungen getroffen, die für mich enorm überraschende Elemente beeinhalteten. So habe ich mich immer kritisch gewundert. Die Ergebnisse aber sprachen klar für sich. Wir holten 4 Siege in Folge gegen teilweise Weltklassegegner. Deutschland spielt tollen Fußball. Wir machen auf und abseits des Platzes eine super Figur.

Nun sind wir im Halbfinale an einem großen Gegner gescheitert. So what? Soll nun alles schlecht gewesen sein, nur weil wir ein verlierbares Spiel tatsächlich verloren haben? Wer glauben wir denn, dass wir sind, wenn solches nicht passieren dürfte? Meiner Meinung nach sollte man nicht auf Jogi schimpfen, sondern gerade als Entscheider von ihm lernen. Er hat Mut, stellt sich hin, trifft und kommuniziert intern wie extern Entscheidungen, die fachlich wie diplomatisch sehr sehr schwierig sind.

Meinen Respekt hat er dafür. Er ist nicht gleichgeschaltet. Er könnte auch einfach tun, was die Masse gerade meint und dabei irgendwelchen unreflektierten „Traditionen“ folgen: mit einem einfachen „never change a winning team“-Gedanken stände er jetzt wohl weniger in der Kritik. Gerade dass er aber immer wieder bereit ist, genau das zu tun, was er aktuell für richtig hält und dabei wenig Angst vor einsamen Entscheidungen hat, ist es, was ihn zu einem guten „Pokerspieler“ macht.

Löw hat sich nicht verpokert. Er hat auch gegen Italien sein Ding durchgezogen für das wir ihn schon so oft bewundert haben. Es ist schwach wegen einer Niederlage gleich am großen Ganzen zu zweifeln. Wenn ich am Tisch fortlaufend unter kalkuliertem Risiko die Chips als Favorit reinbekomme und hin und wieder mal in eine bessere Hand laufe, so zweifle ich wegen des Coolers auch nicht gleich am gesamten Spielansatz.

Wie ein überlegener Pokerspieler auch hat Jogi öfter Recht als Unrecht. Das macht ihn zu einem Guten in der Brache. Mehr ist einfach nicht drin. Etwas Fortune spielt nun mal mit rein und das ist auch gut so.

Zahler zocken – Könner kalkulieren

Stephan Kalhamer für
gaming-institute.de


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