Kolumnen

Von der Angst des Chipleaders

Vom Elfmeterpunkt musst du einfach treffen. Trotzdem spricht der Volksmund von der Angst des Torhüters vor’m Elfmeter und nicht der des Schützens – zu Recht. Denn der Torhüter ist der Dog in diesem Spot. Favorit ist der Schütze. Gerade am Pokertisch muss man mit dem Druck der Favoritenrolle zurecht kommen können.

Im Fußball versucht man alles, nie in die Situation zu kommen, dass es so schlimm um das eigene Tor steht, dass sich selbst ansonsten für unüberwindbar haltende Hüter fürchten. Oft höre ich als Pokertrainer folgende Story: „Ich kann in einem Turnier super Chips aufbauen, aber bin ich erstmal Chipleader, dann verdaddle ich sie wieder. Ich kann als Chipleader einfach nicht spielen.“

Die gesamte Aussage ergibt für mich keinen Sinn. Wer sich schnell zum Chipleader auf zu schwingen vermag, der spielt von Anfang an ein Vabanquespiel. Dieser Mut zahlt sich zunächst aus, weil noch niemand anderes bereit ist, wirklich um alles zu zocken. Dies hat im Wesentlichen zwei Gründe:

– Noch weiss niemand, dass der Hasardeur mit Ziel „schneller Chiplead“ ein solcher ist und somit überreizt. Er könnte auch einen Rush haben.

– Noch sind genügend vakante Chips von Mitstreitern mit ähnlicher Anfangseuphorie aber nicht dem dazu gehörenden Mut zu stehlen.

Doch diese Stimmung kippt irgendwann. Es wird unmittelbarer gegen den steten Tablebulli gefoldet. Dadurch entsteht eine Spirale, die das Ende seiner Regierungszeit einläutet. Es erscheint ihm gar noch einfacher zu stehlen, weil die Gegner sogar schneller aussteigen als zu Beginn. Dadurch und durch die bereits gewonnenen Chips entsteht immer mehr Mut, der dann irgendwann in Übermut, Tollheit, ja Dummheit ausartet.

Denn die Wahrheit ist, dass die immer hochfrequenteren Steals immer weniger einbringen. Dies zu erkennen und den berühmten Gangwechsel einzulegen, verpassen alle, die es nicht schaffen als Chipleader zu agieren. Poker ist auch ein Trade zwischen Chips und Glaubwürdigkeit. Ist Letztere abverkauft, sollte man sie sich wieder erfolden. Tut man dies nicht, so ist plötzlich binnen einiger weniger Sekunden alles, was man sich über mehrere Levels aufgebaut hat, zu einem gewandert, der bis dahin gar nichts tat außer Teetrinken.

Die gute Nachricht ist dann, dass man noch nicht tot ist, denn man hat „nur“ das mühsam erarbeitete zweite Leben verschenkt. Und genau das ist der Punkt. Wir wollen so unsterblich sein als nur möglich. Chiplead bedeutet unmittelbare Unsterblichkeit. Was kann denn schon passieren? Als Worstcase könnte der mit den zweitmeisten Chips gegen uns in den Showdown gehen. Er kann dann sterben, wir nur abfallen.

Es macht wirklich keinen Sinn, zu sagen, man fühle sich als Chipleader unwohl. Wer eine solche Mentalität in sich trägt, wird nie erfolgreich Poker spielen. Man will Favorit sein und damit geht unmittelbar einher, dass man es Pot um Pot selbst ist, der ausgesuckt werden kann; dass man selten die diebische Freude eines aktiven Suckouts empfindet. Eben weil man gut ist.

Was makroskopisch der Chiplead ist, ist mikroskopisch die bessere Hand. Auf die Frage, was die Lieblingshand ist, kann es aus rationaler Sicht nur die Antwort „Rockets“ geben. Natürlich ist JTs nice. Aber willst du gewinnen, dann nimm die Asse und die richten es dann so oft, dass die Freude darüber schwindet. Made Hands liegen vorne, können quasi nichts mehr dazu gewinnen, haben kein Potenzial nach oben. Denn sie sind „oben“. Das richtet den Blick nach unten ins Grauen. Draws haben Phantasie, tragen die Gedanken hoch. Doch sie sind „unten“. Das ist so traurig wie wahr.

Heute Nachmittag spielt Bayern in Bochum in der Bundesliga. Mein Freund und Kollege Sven Lucha hat in seiner aktuellen Kolumne hier auf Pokerfirma schon manches Lesenswerte über Parallelen Fußball und Poker geschrieben, Götz‘ Kommentar dazu lass ich mal so stehen wie er ist, wenn der den VFL und die Asse gleich setzt.

Zahler zocken – Könner kalkulieren
Stephan M. Kalhamer
the-gambling-institute.de


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