Pokerstrategie

Taktisch unentscheidbar

Technisch gesehen stellt sich zunächst die Frage, gegen welche Hände AQ hier hinten oder aber vorne liegt.

Gegen die drei Monsterpaare liegt AQ hinten, gegen alle anderen „flippt“ die Hand. Den leichten Equitynachteil in den Flips sehe ich durch die Kombination aus etwas Deadmoney und der komfortabel covernden Situation (956k-560k ist immer noch spielbar) kompensiert. Jacks oder Tens würden wohl am ehesten per direkten Push spielen. Nines oder Queens würden evtl. auch pushen. Geht man dann weiter nach oben oder unten halte ich einen direkten Push für immer unwahrscheinlicher: KK oder AA wären vielen Spielern zu schade für einen Push. Kleinere Paar hingegen könnten risikominimierend in Kombination mit Position und solider Stacksize vom Push absehen.

AK beim Pusher ist gut möglich; hier wohl der beste Tipp überhaupt. (Aber wer denkt heutzutage denn noch in utopischen Soulreads?) AJ ist ebenfalls denkbar. Da nach unten noch einiges mehr denkbar (v.a. AT oder KQ) ist, nach oben aber nichts mehr geht, sehe ich eine hauchdünne Favoritenrolle darin mit AQ zu dominieren anstelle dominiert zu sein.

Ungefähr hier endet die reine Technik und es beginnt menschlicher zu werden. Welche Story habe ich mit meinem Minraise aus UTG+1 erzählt? Openraiste ich bisher 5x, 3x, 1x oder eher gar nicht per Orbit? Wie liefen meine letzten Hände? Was hat der Tisch von mir gesehen? Was könnte die Meinung über mich sein? Ist mein Gegner überhaupt aufmerksam genug? Habe ich eine spezielle Historie mit UTG+2? Wie steht es um seine Vergangenheit? Hat er gerade verdoppelt, ist er eben ausgesuckt worden oder dümpelt sein Stack vor sich hin? Ist er ein Regular oder evtl. zum ersten Mal deep in einem nennenswerten Turnier? Die Antworten auf diese Fragen führen zu massiv unterschiedlichen Ergebnissen in der alles entscheidenden Frage von oben: „callst du das?“

Nein. Denn AQ ist hier nie vorne. Es flippt gegen ein paar Paare oder ist v.a. gegen AK und QQ geschlagen.

Ja. Denn AQ verliert im Wesentlichen nur gegen AK. Neben einigen Flips rult die Hand viele Semibluffs angeführt von AJ oder KQ. Weiter kann ich selbst für den Fall dass ich die Hand verliere noch weiterspielen.

Rein technisch ist die Hand also nicht zu entscheiden. Es kommt tatsächlich vor allem darauf an, wer ich in den Augen meines Gegners bin. Je mehr Hände er nach meinem Openraise für plausibel hält, desto weaker kann er pushen, desto eher sollte ich folglich mit AQ bezahlen. Weiter spielt es eine große Rolle, wer der Gegner in meinen Augen ist: je eher er in der Lage ist, seinen Push semibluffend zu machen, desto leichter sollte ich bezahlen.

Ich rate in dieser Situation den taktischen Horizont zu überschreiten. Ich sehe die Situation und habe oft sofort ein Bauchgefühl, welchem ich dann auch relativ unmittelbar folge:
Call, weil mein AQ viel besser ist als mein Gegner von mir annimmt und/oder mein Gegner hier easy bluffen könnte.
Fold, weil ich durch meinem UTG+1 Minraise bereits eine Hand wie AQ oder besser kommuniziert habe und/oder ich hier nicht von UTG+2 geblufft werde.
Für den Fall dass ich kein unmittelbares Bauchgefühl habe, so weiss mein Kopf zumindest sofort, dass er hier nicht weiterrechnen muss. Er wird die Situation ohnehin nicht lösen können – nicht auf taktischer Ebene.

Ich eskaliere also ins Strategische. Was passiert, wenn ich hier folde? Was passiert, wenn ich hier calle und gewinne? Ist das gesicherte Szenario attraktiv genug, so dass ich diesen großen Pot nicht brauche? Je höher ich meine Überlegenheit im weiteren Turnierverlauf einschätze, desto eher folde ich. Je bremsender UTG+2 für meine Dominanz am Tisch ist, desto eher calle ich. Diese Art „strategischer implied Odds“ sind viel viel wichtiger für die konkrete Fragestellung als der gesamte, konkret ohnehin nicht zu entscheidende Mikrokosmos der Fragestellung.

Poker ist viel mehr als das bloße Drücken von ein paar Schaltflächen – zum Glück! 😉

Zahler zocken – Könner kalkulieren

Stephan Kalhamer für
gaming-institute.de


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