Kolumnen

Splitter aus Las Vegas: Freeroll-Bingo im South Point

Freitag, 9 Uhr, Hotel/Casino South Point Las Vegas.
Sophia bezieht ihren Platz. Sie drapiert verschiedenfarbige Stifte vor sich, ordnet die Spielblätter, zündet sich noch eine Zigarette an und bereitet sich psychisch auf den Kampf um 10×100 Dollar vor.

Sophia ist 72 und spielt von Montag bis Freitag das Bingo-Freeroll im South Point, dem riesigen Hotelkomplex am sehr südlichen Ende des Strips. 640 Spieler finden in der unterkühlten Bingohalle Platz und kaum einer ist unter 60. Sophia blättert konzentriert im „Bingo Buggle“, dem Fachmagazin für Bingo-Spieler.

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John, der pensionierte Army-Soldat setzt sich ihr gegenüber. Sie begrüßen sich wie Arbeitskollegen mit einem lapidaren „Hey“.
„Nächste Woche ist ein 60k guaranteed für 90 Dollar im Red Rock“, brummt Sophia mit ihrer rauchigen Stimme zu John, der gewissenhaft seine Drei-Dollar Bingostifte an einem Werbeprospekt testet.

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„Kann ich nicht, da spiele ich das 25k im Gold Coast für 50 Buy-in“. Sophia wird weder im Red Rock spielen, noch im Gold Coast sein, dafür reicht ihre Rente von der Wohlfahrt nicht. Aber sie kommt jeden Wochentag ins „South Point“ zum 1.000 Dollar Freeroll für ein bisschen Hoffnung, Unterhaltung und dem gratis Frühstück. Sophia macht sich jeden Morgen hübsch für die Bingohalle. Glamour als Konzept – „aufbrezeln“ setzt der monetären Opferrolle Würde entgegen.

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Die Conferenciere ruft das erste Spiel aus. Die Zahlen kommen in überraschend schneller Abfolge. Konzentriertes Geklopfe auf die Spielblätter im ganzen Saal. Kurz vor Ende von „Small Picture Frame & Four Corners“, rufen die Teilnehmer nach ihren noch fehlenden Zahlen. Wenn die Spieler auf ihrem Zettel keinen „Draw“ haben, rufen sie solidarisch die fehlenden Zahlen ihres Sitznachbarn. Plötzlich ist Leben in der Halle und die Stimmung ist wie in der Südkurve eines Elfmeters für Brasilien in der 93. Minute. „B4“, irgendwo im Saal hört man „BINGO!“ Die Antwort der Announcerin, „possible Winner“, wird von den anderen mit enttäuschten Gesichtern entgegengenommen, danach werden die Blätter mit den Sitznachbarn verglichen und fehlende Zahlen betrauert.

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In der kurzen Pause vor Spiel zwei (Hardway) wird über Handfeuerwaffen gesprochen: „Gestern testete ich eine FN Browning HP – zu wenig Durchschlagskraft“ Danach wird über das zu weiche Waffengesetz geschimpft und das George W. Bush der Beginn des Untergangs von Amerika war (zu liberal) und jetzt mit Obama steht die Revolution ohnehin kurz bevor.

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Im Spiel hilft dann Sophia ihrem gegenübersitzenden und sehr langsamen Spielpartner, ein paar Zahlen auf dem Bingoschein nachzuholen. Auf seinem T-Shirt ist ein Esel in den amerikanischen Nationalfarben gemalt.
„Possible Winner“, die „Niete“ wird abgerissen und zu den anderen gelegt.

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Sophie zündet sich eine Pausen-Zigarette an und John wird politisch. Er hält einen fast gemurmelten Vortrag über den Verfall Amerikas. „Weißt du weshalb dieses Land zu Grunde geht? Weil es überall nur Sex gibt. Auf der Straße, im Kino, in den Zeitungen, überall Sex. Sex ruiniert Amerika und schuld daran sind die Demokraten und ihr Neger-Präsident“. Dann erklärt er noch das Amerika das beste Land der Welt ist und dass die ganze Welt die Amerikaner liebt, weil sie die Welt retten. Zustimmendes nicken im Bingosaal.

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Nach Spiel fünf (Nine Pack) fragt John die österreichischen Touristen hinter ihm, ob sie französisch sprechen. „Nein wir sind Europäer alpiner Herkunft und sprechen Deutsch.“ John erklärt daraufhin wie toll er die europäischen Frauen findet, weil sie so freizügig sind. Nur einmal möchte er nach Europa um die Schwedinnen und Holländerinnen kennenzulernen. „Stimmt es wirklich, dass in Holland am Strand alle Frauen „oben ohne“ herumlaufen?“
„Klar“

Nach Spiel acht (Double Bingo with Wild #), macht Sophia Lockerungsübungen für ihre Hand. Es ist unwahrscheinlich wie schnell und hoch konzentriert die kleine Frau mit ihrem rosa Bingostift die Zahlen auf dem Schein ausmalt.

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Nach Spiel zehn (Double X) werden die Stifte sorgfältig verschlossen, die verlorenen Bingoscheine in den überfüllten Mülleimer geworfen und wie nach einer 12 Stunden Nachtschicht verlassen die Bingo-Freeroller das Casino – die meisten von ihnen mit Rollator.

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