Kolumnen

Zu tight macht auch keinen Spaß. Von Buonarroti lernen….

Ich bin ein Typ mit Penetrationshintergrund. Und mit großen Vorstellungen und noch größeren Idealen. Auch und vor allem beim Pokern. Es ist ja eh ein langweiliges Spiel, und wenn ich dann auch noch nur jede fünfte Hand spielen sollte, wird’s für mich noch fader. Penetration muss einfach sein, ich muss auch meine Freunde am Tisch nerven können. Deshalb calle ich alles; na, ja fast alles. Vor dem Flop sowieso und danach entscheidet dann mein Bauch, ob ich mitgehen soll, weil die Vier bestimmt noch kommen wird. Ist doch klar, dass die Vier noch kommt. Oder der Bube, oder was auch gerade immer benötigt wird. Ich habe das schon so oft gesehen, dass auf dem Turn oder spätestens auf dem River die Vier kommt. Echt. Wirklich. Und wenn nicht, wandern wenigstens die runden Dinger über den Tisch; die langweilen sich sonst doch auch.

Born to chill – gezwungen zum Pokern. Schnell donken, dann chillen.  Die Schönheit des Unvollendeten genießen und auch entsprechend würdigen. Auch ein Flush Draw hat seine Zauberhaftigkeit, er muss nicht vollendet sein, um eine Schönheit im Auge des Betrachters zu sein. Kein großer Moment in der Kunst, in der Liebe ist jemals vollendet. Anders denken, die Philosophie und die Emotion im Ganzen genießen, da muss mein Pokerspiel hin. Und ich bin auf dem besten Weg.

Manche mögen mich jetzt als verwirrt beschimpfen. Ich sehe mich eher in der direkten Linie aller großen Künstler, die auch schon immer Revolutionäre waren. Mein großes Vorbild ist Filippo Buonarroti, sozialdemokratischer Revolutionär aus der Familie Michelangelos. Mitwirkender beim Kampf gegen Napoleon; Autor meines Lieblingsbuches „Verschwörung für die Gleichheit“.

Auch ich sehe mein Pokerspiel als Tribüne für eine leidenschaftliche Verteidigung meiner Vorstellungen von politischer und sozialer Gerechtigkeit an. Dabei agiere ich furchtlos und selten brillant. Mein Pokerleben ist ein andauernder Kampf für die Freiheit auf schlechte Calls.  Das ist moderner Sozialismus, der uns alle nach vorne bringt. Und es ist in meinen Augen die Pflicht eines jeden anständigen Menschen, zum Umsturz des gesellschaftlichen Systems des permanenten Foldens, beizutragen und eine Ordnung herzustellen, die die Würde und das Glück aller bewahrt. Dieses übe ich mit Vehemenz, mit Tapferkeit und Ausdauer aus.

Befreit euch von den Gefängnismauern von schlechten Starthänden, gehet noch radikaler an das Mitwirken der Bildung großer Pots an; steckt die Ziele noch höher. Je größer die Gefahren, desto größer der Ruhm bei ihrer Überwindung.

Die Diktatur der revolutionären Minderheit muss so lange aufrechtgehalten werden, bis die Umgestaltung und das Umdenken erreicht ist. Und scheuen wir uns nicht, mit unbarmherziger Klarheit den Grundkonflikt immer wieder offen darzulegen. Jeder könnte die Welt verbessern, wenn er mit der Erziehung seines Tischnachbarn anfangen würde. Meuterei auf spielerischem Niveau. Auflehnung gegen übertriebene Folds, nur weil man nicht an den Oneouter glaubt. Glaube heißt Hoffnung, Hoffnung erfüllt sich meistens nicht, Erfüllung ist individual gesehen überbewertet und kontraproduktiv. Produziert Mitmenschlichkeit, produziert die Erfüllung der Wünsche und Sehnsüchte des Fisches auf Platz 5. Legt euch eine entsprechende seelische Grundstruktur zu. Lasst eure Chips mitspielen. Immer und immer öfter. Irgendwann haben sie euch verlassen, aber mit einem Lächeln im Gesicht.  Und sie werden euch dankbar sein, für ein aufregendes Leben. Nichts ist langweiliger als die Langeweile; lasst sie nicht an einem Platz verharren, sorgt dafür, dass sie zu ihren Brüdern und Schwestern kommen.

Nennt mich ruhig auf eine verspottende Art und Weise einen Avantgardisten, beschimpft mich als Nonkonformisten, aber, ja, so denke, lebe und spiele ich Poker. Freiheit und Brüderlichkeit für nicht gute Calls. Liberté. Nicht mehr und nicht weniger muss die Zielsetzung sein.


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