Kolumnen

Der nichtreisende Reisende – Jeff Lisandro und die gebrochene Hand

Und wieder mal gescheitert. Der geplante schlaue Text zur generellen Sinnhaftigkeit der Pokerliteratur wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Man darf den krausen Gedanken einfach keinen Raum geben. Kaum wühle ich mich durch die gruseligen Gefilde meiner wirren Erinnerungen, schon bin ich wieder ganz wo anders. Diesmal hält der Zug bei Jeff Lisandro und einem Mann mit kurzen Hosen, der etwas wirklich Gescheites sagt. Immerhin.

Lang ist es her. Wir waren, jung, wild, hatten kurzfristig großes Geld und am nächsten Morgen keines mehr, dafür doppelt so große Probleme. Ganz am Rande des Kreises der Freunde, quasi in der amikalen Peripherie war da dieser Junge, der immer anders war als wir es waren. Durch einen historisch schwer zu rekonstruierenden Irrtum des Schicksals gehörte er zu uns. Wir mochten ihn, er mochte uns und von April bis Oktober war er auf Reisen. Weit weg auf fremden Kontinenten immer auf Suche nach Abenteuer und neuen spannenden Drogen. Ein halbes Jahr arbeiten, ein halbes Jahr reisen. Das war sein Rhythmus bei dem er mit musste und für den er lebte und bei dem er erfolgreich war. Im Gegensatz zu uns, wir wollten ein halbes Jahr etwas ähnliches tun wie arbeiten und dann den Rest des Lebens Geld ausgeben. Keinem von uns war diese pekuniäre Gnade gegeben und die Rechnung ging – rein mathematisch gesehen – nur bei denen halbwegs auf, die rasch starben und das waren rückblickend betrachtet nicht wirklich wenige.

Zurück zu dem reisenden Jungen, der nicht zu uns passte und eines Tages auch nicht mehr zurück kam und keinem wirklich abging. Ich traf ihn dann viel später an einem drückend heißen Augustabend mitten in der Stadt. Kurze Hosen, leicht gebeugter Gang und die Peinlichkeit, die zwischen uns lag war spürbar wie das nahende Sommergewitter. „Was machst du da?“ fragte ich mit aufgesetzter Unbefangenheit. „Du im Sommer in der Stadt? Solltest du nicht gerade in Patagonien wandern, in Melanesien schwimmen oder weiß Gott wo sein?“. „Ich reise nicht mehr“ sagte er: „Ich fahre nirgendwo mehr hin. Ich bleibe jetzt in Wien und das ist auch gut so.“

Erschreckend irgendwie. Da stand der einzige Mensch mit Rhythmus den ich kannte in kurzen Hosen vor mir und nichts war mehr wie es einst war. Irgendwie schien er meine existentielle Verwirrung zu spüren und vielleicht auch deshalb ergänzte er seinen Gedanken folgendermaßen: „Weißt du Götz, ich habe einfach erkannt, dass ganz egal wie weit ich auch weg fahre, ich bin doch immer in der Nähe von mir selbst.“

Eine bemerkenswerte Erkenntnis, die weit über das scheinbar Banale und Selbstverständliche hinaus zu gehen scheint. Was nutzt uns all das angelesene Wissen über spielerische Aggressivität, irgendwann hat man dann Aktion und man müsste pushen und tut es nicht, weil man tief in seinem Inneren nicht bereit ist, sein Turnierleben zu riskieren, wenn man es eigentlich tun sollte? Was hat man davon, wenn man alles über Startkartendisziplin und Position weiß, aber nach der zehnten Trash-Hand am Stück sofort bereit ist, sich in KQ-off zu verlieben, weil Dragan Galic damit angeblich auch ein Turnier gewonnen hat? – Die Lektüre von ausgewählter Pokerliteratur schadet natürlich nicht, aber so lange wir unser Wissen und unser Wesen nicht in Harmonie bringen, ändert das alles nichts. Wir bleiben dann quasi „in der Nähe“ unseres alten Spieler-Ichs und der vermeintliche Wissenszuwachs sorgt für ein mehr an Verwirrung und bringt uns sicher nicht dorthin, wo wir eigentlich hin wollten.

Auch wenn es fast denkunmöglich zu sein scheint, die zweite Geschichte wirkt vielleicht noch ein wenig weiter hergeholt, aber immerhin steht in deren Mittelpunkt mit Jeff Lisandro ein vierfacher Bracelet-Gewinner.

Fast zwanzig Jahre ist es inzwischen her und ich erinnere mich noch daran, als ob es gestern gewesen wäre. Jeff Lisandro saß da am Limit Hold´em Tisch wie eine gefährliche Kröte mit der absoluten Kontrolle über jeden einzelnen von uns und einem eingegipsten rechten Arm.

Natürlich hätte ich am liebsten gefragt, wie man so unheimlich und unfassbar starkes Poker spielen kann, aber stattdessen habe ich mich aus reiner Höflichkeit und ohne Hoffnung auf Erkenntniszuwachs nach dem gebrochenen Arm erkundigt. Was dann kam war eine Geschichte, wie sie nur Männer der Nacht erzählen können. Von einen ehemaligen Freund, der ihn bitter enttäuscht hatte. Von einer gestohlenen Liebe, geraubtem Geld und einer unfassbaren Wut, weil sich besagter ehemalige Freund mehr als aus dem Staub gemacht hatte. Unauffindbar und scheinbar für immer weg und untergetaucht.

Irgendwann viele, viele Monate später an einer wenig befahrenen Kreuzung saß Jeff Lisandro und hielt das Lenkrad noch mit zwei ungebrochenen Händen fest. Im Rückspiegel sah er besagten satanischen Exfreund nichts ahnend in einem wahrscheinlich fremdfinanzierten Wagen sitzen. Raus gesprungen, nach hinten gelaufen. Das Seitenfenster offen und Jeff ballte endlich die Faust, die er im Geiste seit jenem Vorfall bereits tausende Male geballt hatte. In höchster Panik presste der ertappte Halunke den elektrischen Fensterheber und Jeff Lisandro musste eine Entscheidung fällen, weil Fäuste ballen alleine niemals reicht. Würde die Zeit reichen? Fensterhebermaschine gegen wütende Pokermaschine? Und Jeff entschied sich und schlug zu, nur es war scheinbar die falsche Entscheidung. Halunke und Seitenscheibe blieben ganz, die Hand aber war gebrochen.

Dumm gelaufen, dachte ich mir damals, als Jeff Lisandro seine Geschichte scheinbar beendet hatte, aber dann kam noch dieses Dacapo und ich erlaube es mir jetzt grob und teilweise aus dem Englischen zu übersetzen: „Weißt du Götz, ich habe alles richtig gemacht. Weil wenn ein guter Pokerspieler etwas unbedingt erreichen will und die Chance klein aber vorhanden ist – than you have to go for it, no matter what!“.

Warum steht eigentlich so etwas nie in Pokerbüchern? Zumindest nicht in denen, die ich kenne. Aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich jemals eines schreiben sollte, fange ich mit den zwei Geschichten an. Garantiert.


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